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Was macht Angst, nass und schön?

Sie sind auf dem Nachhauseweg. Es war ein langer Tag, ein anstrengender Tag, ein heisser Tag. Sie fahren im überfüllten Zug, das T-Shirt klebt am Rücken. Die Luft ist geschwängert. Sie beobachten, wie draussen ein dunkles Gewitter mit heftigem Wind aufzieht. „Hoffentlich reicht es trocken nach Hause“, denken Sie. Just in dem Moment, wo sie austeigen, platschen die ersten dicken Regentropfen auf den Bahnsteig. Sie können dem sintflutartigen Platzregen nicht entschwinden. Was machen Sie?

Suchen Sie nach einem Regenschirm in Ihrer Tasche? Bleiben Sie unter dem Bahnhofsdach stehen und warten bis das Schlimmste vorüber ist? Machen Sie sich mit hochgezogenen Schultern und einer Zeitung als notdürftigen Kopfschutz eiligen Schrittes auf den Weg? Was bewegt sie zu diesen Schutzhandlungen? Es ist im Grunde – Angst.

Angst vor dem Regen? Ja. Beobachten Sie einmal ganz genau. Vielleicht nennen Sie es eher Widerstand. Auch das ist in der Essenz Angst. Angst, nass zu werden, zu frieren, sich zu erkälten, krank zu werden – und schlimmstenfalls an der Krankheit zu sterben. Nur: Die beschriebene Situation ist nicht lebensbedrohlich. So wie viele andere Situationen im Leben dies auch nicht sind – und doch kreieren wir Ängste. Es sind unsere Vorstellungen, die uns das Schlimmste ausmalen lassen. Wir haben gelernt, Sicherheit zu suchen. Es ist unsere Gewohnheit, Unangenehmes zu vermeiden. Der Verstand liefert uns vielerlei überzeugende Gründe dafür, sein Hauptargument ist Schutz. Ja, wir möchten trocken durchs Leben gehen.

Was erleben wir, wenn wir es einmal anders versuchen und aus der Gewohnheit und den Vorstellungen ausbrechen?

Ein heftiger Platzregen ist keine ernsthafte Bedrohung, das können wir unserem Organismus (wieder) beibringen. Probieren Sie es aus. Was geschieht, wenn Sie das nächste Mal bei Regen nach draussen gehen? Lassen Sie sich vollständig verregnen – mit Haut und Haar, Kleidern und Schuhen. Beobachten Sie, wie anfangs vielleicht eine Art Widerstand, ein Schutzreflex aufkommt. Beobachten Sie weiter, wie sich diese Gefühle auflösen und anderen Erlebnissen Platz machen. Was nehmen sie wahr? Könnte es sein, dass es sie erquickt, belustigt, erfreut, erleichtert – dass vielleicht auch fröhliche, unvernünftige Kindheitserinnerungen geweckt werden?

Wie wohltuend und befreiend es sein kann, mit Neugier offensichtlich sinnlosen Ängsten zu begegnen! Sich lächelnd gelassen und freudig furchtlos einem schönen, erfrischenden Sommergewitter hingeben: „Regen macht ganz bestimmt schön.“

 
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